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SPIEGEL: Die Alliierten wollten den Kaiser vor Gericht stellen, "wegen schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes". Dazu kam es nicht, weil die Holländer den 1918 ins Exil geflohenen Monarchen nicht auslieferten. Gehörte Wilhelm vor Gericht?
Röhl: Er hat keine Kriegsverbrechen verübt, keinen Mordbefehl erlassen oder dergleichen. Aber Verschwörung zu einem Angriffskrieg - das muss man ihm vorwerfen. Ich glaube, seine Schuld ist sehr gross, viel grösser als gemeinhin unterstellt wird. Und wenn er vor Gericht gekommen wäre, wäre er auch verurteilt worden.
SPIEGEL: Waren die anderen denn vollkommen unschuldig? Immerhin koppelte Zar Nikolai II. sein Land immer enger an Serbien, das von einem grossserbischen Reich träumte und aus der Grossmacht Österreich-Ungarn eine Art Schweiz des Ostens machen wollte. Auf friedlichem Wege war das nicht möglich.
Röhl: Ich will Russen und Serben nicht verteidigen. Aber eines ist sicher: Das Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien bedeutete Krieg, und ohne die Deutschen hätte es das Ultimatum nicht gegeben. Ich glaube übrigens, dass es überhaupt nicht zu einem Krieg gekommen wäre, wenn die Deutschen ihren Weltmachtanspruch reduziert hätten.
SPIEGEL: Gemessen an den Masstäben der Zeit, war der deutsche Wunsch nach einem Weltreich freilich nicht mehr und nicht weniger legitim als der französische oder britische.
Röhl: Da haben Sie Recht. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass die deutsche Politik ein Weltreich nicht an der Peripherie des Staatensystems, sondern auf Kosten der drei etablierten Weltmächte Russland, Frankreich und Grossbritannien im Herzen Europas errichten wollte, und das musste zum Krieg führen.
SPIEGEL: Auch die britische Regierung hat sich in der Julikrise nicht mit Ruhm bekleckert. Sie hat in Berlin den Eindruck genährt, dass England neutral bleiben würde und damit den deutschen Kriegsbefürwortern in die Hände gespielt.
Röhl: Na ja, am 3. Dezember 1912 hat Kriegsminister Lord Haldane im Auftrag des britischen Aussenministers Edward Grey ganz deutlich ausgesprochen, dass man die Vorherrschaft Deutschlands in Kontinentaleuropa nicht dulden könne.
SPIEGEL: Das war anderthalb Jahre vor der Julikrise. Es gab später auch andere Signale.
Röhl: Die Briten haben sich teilweise um einen Ausgleich bemüht, was in Berlin als Beleg dafür angesehen wurde, dass London im Kriegsfall neutral bleiben wolle. Insofern kann man sagen, dass die Briten den Fehler gemacht haben, zu freundlich gewesen zu sein.
SPIEGEL: Das war nicht die einzige Fehleinschätzung in der Julikrise.
Röhl: Stimmt. Der Kaiser unterschätzte seine Gegner. Er hielt wenig von Frankreich, weil es eine Demokratie war. Die Russen verachtete er als Slawen, da war Wilhelm ein Rassist. Und bei den Briten setzte er auf Verständigung mit König George V, obwohl der politisch keine Rolle spielte.
SPIEGEL: Wilhelm fühlte sich ernsthaft von seinen Cousins Nikolai II. und George V. hintergangen.
Röhl: Das war eine Art Verdrängung. Wilhelm sah ja, was für ein Desaster er angerichtet hatte. Er hatte bezeichnenderweise bei Kriegsbeginn eine Art Nervenzusammenbruch, der ihn für die Dauer des Krieges schwächte.
SPIEGEL: Welche Verwandlung ging da vor sich?
Röhl: Er wurde depressiv. Seine Frau schrieb ihm zwei Wochen nach Kriegsbeginn: "Nimm Dir nicht Alles so zu Herzen, Du mein Liebling, Du stehst so klar und gerecht vor der Welt." Er war in einem kümmerlichen Zustand und auch physisch angeschlagen auf Grund einer Hodenerkrankung [zaadbalontsteking], die 1917 operiert werden musste. Wilhelm konnte deshalb während des Krieges nicht reiten.
SPIEGEL: Dass er bei Kriegsbeginn von Skrupeln [gewetensbezwaren] gequält wurde, macht ihn immerhin etwas sympathisch.
Röhl: Wilhelm war ein schwacher, leicht kränkbarer Mann. Sobald er sich verletzt fühlte, reagierte er unglaublich aggressiv. Das blieb so sein ganzes Leben lang.
SPIEGEL: Mit dieser psychischen Disposition stand er ja nicht allein, das war durchaus typisch für die damalige Zeit.
Röhl: Das mag sein, aber bei ihm war es auf Grund seiner Machtfülle von besonderer Bedeutung.
SPIEGEL: Wilhelm hat sich wieder aufgerappelt und wollte mit martialischen Reden die Deutschen für den Krieg mobilisieren.
Röhl: Na ja, er hat die Reden gehalten, die ihm aufgeschrieben wurden. Er hat sie im Studio übrigens noch mal nachgesprochen. Das sind die Aufnahmen, die wir heute hören können.
SPIEGEL: Der Wunsch nach Selbstdarstellung zog sich wie ein roter Faden durch Wilhelms Leben. Er war in der Hinsicht modern, fast ein Medienkaiser.
Röhl: Ja, das hat er früh begriffen, dass er sich zeigen musste. Aber seinem Selbstverstandnis nach war er autokratisch, militaristisch und reaktionär.
SPIEGEL: Hat sich der Kaiser vorher überlegt, wie er die Sozialdemokraten für den Krieg gewinnen könnte?
Röhl: Er wollte die sozialdemokratischen Führer alle verhaften, aber Bethmann Hollweg sagte zu ihm, ich mache das auf meine Weise. Und das hat sehr gut geklappt. Viele Deutsche glaubten tatsächlich, sie würden angegriffen.
SPIEGEL: Wilhelm hielt sich während des Krieges im Hauptquartier auf. Welche Rolle spielte er dort?
Röhl: Seine Berater durften ihm schlechte Berichte nicht zeigen. Niederlagen hat er schnell als Katastrophen empfunden. Und wenn ein Sieg gemeldet wurde, liess er gleich Champagner kommen, weil er glaubte, der Krieg sei gewonnen. Er hat sich da in Phantasiewelten geflüchtet. So faselte [leuterde – baselde] er 1917 von "einem Kreuzzug gegen das Böse - Satan - in der Welt" und sah sich als "Werkzeug des Herrn". Diese Flucht hat schon fast etwas Hitlerisches.
SPIEGEL: Aber anders als der "Führer" hat er sich nicht eingemischt [er in gemengd – mee bemoeid].
Röhl: An der Kriegführung im Detail war er nicht beteiligt. Das heisst aber nicht, dass er auch politisch keine Rolle mehr spielte. Denn er war die letzte
Entscheidungsinstanz.
SPIEGEL: Aber hat er denn wirklich so viel entschieden?
Röhl: Er hat gegen das Drängen der Marine bis 1916 der Hochseeflotte die Erlaubnis zum Auslaufen verweigert, weil er um seine Schiffe fürchtete und die Stärke der britischen Flotte richtig einschätzte. Er traf sodann alle wichtigen Personalentscheidungen. Und er sagte "Ja" zum uneingeschränkten U-Boot-Krieg, was den Kriegseintritt der USA bedeutete. Eine verhängnisvolle Fehlentscheidung.
SPIEGEL: Aber er war eher Getriebener als Treiber.
Röhl: Ich habe das als Königsmechanismus beschrieben. Es waren fast immer zwei Richtungen in Militär und Regierung vorhanden, die gegeneinander kampften, und er musste entscheiden.
SPIEGEL: Von programmatischer Politikgestaltung ist das weit entfernt.
Röhl: Vor dem Krieg war das anders. Wilhelm hatte nach der Entlassung Bismarcks 1890 das politische System ganz auf sich zugeschnitten.
SPIEGEL: Und damit hat er sich übernommen.
Röhl: Ja, es kam mit der Zeit zu einem heillosen Durcheinander. Wir Historiker nennen das polykratisches Chaos. Die Behörden machten, was sie wollten. Die Armee plante für einen Landkrieg, die Marine für einen Seekrieg, ohne dass man sich koordinierte.
SPIEGEL: Wilhelm war bis 1914 ein gewöhnlicher Antisemit. Wurde sein Judenhass während des Krieges schärfer?
Röhl: Ich glaube, die Niederlage und seine erzwungene Abdankung liessen ihn zu einem wirklich eliminatorischen Antisemiten werden. 1919 bezeichnete er die Juden als „Giftpilz am deutschen Eichbaum", der ausgerottet und vom deutschen Boden vertilgt werden müsse. Und 1927 liess er bei Fritz Haber, dem Erfinder des Giftgases, anfragen, ob es möglich sei, ganze Grossstädte zu vergasen. Aus dem gleichen Monat stammt dieses schreckliche Zitat, in dem er die Presse, Juden und Mücken
[muggen] als "Pest" bezeichnete, von der sich die Menschheit befreien müsse. Er notierte handschriftlich dazu: "Ich glaube, das Beste wäre Gas."
SPIEGEL: Aber kann das nicht auch nur ein weiteres Beispiel für Wilhelms gedankenloses Schwadronieren [zwetsen, opscheppen] sein?
Röhl: Wissen Sie, damit wird Wilhelm immer entschuldigt. Jeder andere Staatsmann würde bereits für einen Bruchteil der Ausserungen Wilhelms verurteilt werden.
SPIEGEL: Wilhelm wurde mit einem verkrüppelten Arm geboren, als Kind mit Stromstössen und Kopfstreckmaschinen schrecklich gequält, um die Behinderung zu beheben. Dass der Mann gestört war, kann einen nicht verwundern.
Röhl: Das stimmt. Und dann sammelte er leider um sich Berater wie Philipp zu Eulenburg, die dafür sorgten, dass seine Macht wuchs, obwohl es hundertfach Warnungen gab, dass Deutschland nicht so autokratisch regiert werden könne, wie es der Kaiser anstrebte.
SPIEGEL: Sie haben im Zusammenhang mit Eulenburg einmal davon gesprochen, dass Wilhelm bisexuell gewesen sei.
Röhl: Das muss ich zurücknehmen. Inzwischen kenne ich die ganzen Frauengeschichten Wilhelms inklusive der unehelichen Kinder. Manchmal ist er mit zwei Frauen gleichzeitig ins Bett gegangen. Das tut ein homosexueller Mann wohl eher nicht.
SPIEGEL: Dass viele Homosexuelle wie Eulenburg und General Kuno Graf von Moltke in seiner Entourage waren, hat also nichts zu sagen.
Röhl: Nein, Wilhelm wollte angehimmelt werden, und wenn das Männer taten, hatte das aus seiner Sicht mehr Gewicht, als wenn die Bewunderung von Frauen kam.
SPIEGEL: Es gibt wohl niemanden auf der Welt, der sich so intensiv mit Wilhelm beschäftigt wie Sie. Haben Sie auch sympathische Züge an ihm entdeckt?
Röhl: Das vielleicht nicht, aber Mitleid kann man mit ihm haben für die frühen Jahre. Man kann zudem seine Dynamik bewundern. Er war ja an vielem interessiert. Und er schneidet im Vergleich zu den anderen Monarchen in Europa nicht schlecht ab. Denn das waren nun ganz traurige Typen, wirklich totale Nieten.
SPIEGEL: Professor Röhl, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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